Vom Loslassen – Gastartikel von Sybille Herold

Vom Loslassen – Wie mir einige meiner Freundinnen genau das immer wieder ans Herz legten. Und ich sie dafür nicht mochte.                                                                               

 „Lass sie los.“ „Verabschiede dich von deinen Erwartungen.“  Das sind wohl die in den letzten beiden Jahren am häufigsten gehörten Empfehlungen meiner Freundinnen, wenn ich ihnen von meinem Kummer erzählte, der dadurch entstanden war, dass meine Tochter sich entschlossen hatte, ihren Lebensmittelpunkt mehr als fünf Fahrstunden von uns entfernt zu wählen.

Was war passiert? Über drei Jahrzehnte lang hatte ich eine enge und herzliche Beziehung zu ihr. Daneben hatte sie einen sehr großen Freundinnenkreis, aber wir genossen beide unsere regelmäßigen Kontakte und den gegenseitigen Austausch.

Der Mann für’s Leben – und plötzlich war alles anders

Als sie dann den Mann für ihr Leben gefunden hatte, wurde er natürlich ihre Nummer eins. Irgendwann pendelte es sich ein, dass wir uns alle zwei Wochen zum Kaffee- bzw. Teetrinken trafen. Schade, dass dann auch irgendwann die jährlichen Mutter-Tochter-Wochenendreisen auf der Strecke blieben. Dann verkündete sie mir, dass sich beide entschlossen hätten, aus Berlin an die Nordsee zu ziehen, weil sie meinten, dort ihr Lebensglück zu finden.

Mit einem lauten Knall (eigentlich waren es so peu à peu mehrere Einschläge) implodierte eine Vielzahl meiner Träume und Visionen. Ich würde nur eine Fernbeziehung zu möglichen Enkelkindern pflegen können, wo wir beim Umzug in unseren neuen Lebensort in Brandenburg schon die Enkelkinder im großen Garten hüpfend und schaukelnd und mit uns basteln, vorlesend und herumalbernd gesehen hatten. Unsere Weibergespräche würden durch Telefonate und Videosessions ersetzt werden müssen. (Inzwischen haben wir alle möglichen Kontaktformen wie auch WhatsApps, E-Mails, Audios ausprobiert, ohne bisher einen sich gut anfühlenden Raum gefunden zu haben, um unsere Beziehung weiter zu pflegen.)

In den letzten Jahren sahen wir uns etwa fünfmal jährlich, gefühlt immer zu kurz. Ich würde sie in ihrem Lebensalltag – seit drei Jahren mit Tochter – nicht unterstützen können und umgekehrt auch kaum noch Unterstützung erhalten können, die wir derzeit zwar noch nicht so häufig benötigen, aber das kann sich schnell ändern. (Ich erwarte von meinen Kindern keine Pflegeleistungen oder Alltagsversorgung. Auch der Sohn wohnt 250 km entfernt. Aber als in diesem Sommer der Sturm durch unseren Garten zog und der Keller unter Wasser stand, war einfach Hilfe erforderlich.)

Keine enge Bindung zur Enkeltochter

Am schmerzlichsten war, dass ich zu meiner Enkeltochter wohl nie die enge Beziehung aufbauen können würde, wie ich es mir erträumt habe. Darüber schrieb ich sogar ein Buch „Reise ins Land der Großeltern“, da ich plötzlich ähnliche Konstellationen der größeren Entfernung von Großeltern und Enkelkindfamilie überall rundum sah. (Und wir haben noch Glück: die Enkelkinder der Gegenübernachbarn leben in Amerika.) Ich wollte damit Großeltern Hilfe bei einem lebendigen Miteinander mit den Enkelkindern und deren Eltern geben.

Schmerzlich war aber auch die Veränderung der Beziehung zu meiner Tochter. Klar, sie hat ein Recht auf ihr eigenes Leben. Vermutlich war unser Verhältnis zuvor sogar eher einen Tick zu eng gewesen. Ja, sie hatte mit ihrem Leben und den heutigen Ansprüchen junger Eltern an die „Erziehung“ ihrer Kinder alle Hände und den Kopf voll zu tun. Da Kinder heute ja sehr früh keinen Mittagsschlaf mehr machen und dafür am Abend eine Einschlafbegleitung bekommen, gab und gibt es kaum noch unsere Gespräche von Frau zu Frau. (Schließlich wollte der Opa ja auch ein Stück vom ohnehin zu kleinen Kuchen der gemeinsamen Zeit abbekommen.)

Nicht gebraucht werden

Es entstand eine Lücke in meinem Lebenskonzept bezüglich der Frage, wozu ich denn (nach Wegfall der Arbeit) noch gebraucht werde. Selbst bei einfachen Lebensfragen zum Kochen, Nähen und Haushaltsführung wird heute ja schneller Herr Google befragt als die eigenen Eltern. Eine Entlastung der jungen Familie war nicht möglich. Wichtige Dinge und Entscheidungen im Leben meiner Tochter wurden nicht mehr oder spät geteilt. Aus verschiedenen Gründen waren die gegenseitigen Besuche rar und letztendlich musste die Zeit ja auch noch mit den anderen Großeltern in Berlin geteilt werden.

Ich gestehe, das hat mir manch schwere Stunde bereitet. Auf die Empfehlung mit dem Loslassen habe ich jedoch mit viel Widerstand reagiert.

 

Engellieder

Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß:
und auf einmal war ich das Erbarmen,
und er eine zitternde Bitte bloß.

Da hab ich ihm seine Himmel gegeben, –
und er ließ mir das Nahe, daraus er entschwand;
er lernte das Schweben, ich lernte das Leben,
und wir haben langsam einander erkannt…

Seit mich mein Engel nicht mehr bewacht,
kann er frei seine Flügel entfalten
und die Stille der Sterne durchspalten, –
denn er muss meiner einsamen Nacht
nicht mehr die ängstlichen Hände halten –
seit mich mein Engel nicht mehr bewacht.

Rainer Maria Rilke, aus dem Band „Dir zur Feier“ (1897/1898).

Loslassen meiner Tochter war für mich gleichbedeutend mit fallenlassen. Da Familie für mich einen hohen Wert hat, sträubte sich alles in mir dagegen. Geholfen hat mir schließlich das Bild einer Bekannten.

Loslassen muss nicht

Vom Loslassen – Wie mir einige meiner Freundinnen genau das immer wieder ans Herz legten. Und ich sie dafür nicht mochte. Gastartikel von Sybille Herold, diealltagsfeierin.de

sein.

Loslassen kann auch

Vom Loslassen – Wie mir einige meiner Freundinnen genau das immer wieder ans Herz legten. Und ich sie dafür nicht mochte. Gastartikel von Sybille Herold, diealltagsfeierin.de

sein statt

Vom Loslassen – Wie mir einige meiner Freundinnen genau das immer wieder ans Herz legten. Und ich sie dafür nicht mochte. Gastartikel von Sybille Herold, diealltagsfeierin.de

Damit kann ich gut leben.

Heute kennen wohl die meisten Eltern das Gedicht von Khalil Gibran.

Eure Kinder

Eure Kinder sind nicht eure Kinder.

Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht

des Lebens nach sich selber.

Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,

Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.

Ihr dürft ihnen eure Liebe geben,

aber nicht eure Gedanken,

Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben,

aber nicht ihren Seelen,

Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen,

das ihr nicht besuchen könnt,

nicht einmal in euren Träumen.

Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein,

aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.

Denn das Leben läuft nicht rückwärts

noch verweilt es im Gestern.

Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder

als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,

und er spannt euch mit seiner Macht,

damit seine Pfeile schnell und weit fliegen.

Lasst eure Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein;

Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist.

Fotocredit: Sybille Herold

Es scheint leicht, dem zuzustimmen. Zumindest bis auf den letzten Abschnitt. Welche Mutter fühlt sich nicht ein Leben lang mit ihren „Pfeilen“ verbunden, leidet mit ihnen mit, wenn es ihnen nicht gut geht, sorgt sich um sie, freut sich mit ihnen, macht sich Gedanken darüber, was sie ihnen mitgegeben hat und was vielleicht versäumt wurde. Ein Pfeil fliegt in die Welt und hat keinerlei Verbindung mehr zum Bogen. Welche Mutter will das wirklich? – Sind unsere Beziehungen auch zu den erwachsenen Kindern nicht genau das, was unser Leben menschlich und befriedigend macht?

Deutliche Erwartungen meinerseits

Ja, und da gab es auch eine deutliche Erwartung bei mir:  Ich habe als Mutter zwar einige Sachen gemacht, die ich heute anders machen würde. Aber ich habe immer mein Bestes gegeben. Oft durchaus über das übliche Maß hinaus. Hatte ich da nicht ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Zuwendung verdient? An Respekt und an Rücksichtnahme?

Es wütete in mir: Dieser Egoismus heute! Es geht nur noch um das eigene Lebensglück! Wie es anderen damit geht, ist egal. Ist denn kein Kompromiss möglich? – Wie schon gesagt, ich erwarte weder Pflegeleistungen noch eine Rundumbespaßung durch meine erwachsenen Kinder. Aber echte warme Umarmungen statt eines „fette Umarmung“ in der WhatsApp. Wechselseitige Teilhabe an unseren Leben.

Die eigenen Schatten kennen

Inzwischen habe ich mich sortiert. Ich weiß um meine Schatten und warum ich eindeutig getriggert reagiert habe. Da war noch einmal einiges an Schattenarbeit gefragt. Unter anderem die Reflexion der Beziehung zu meinen Eltern. – Auf den Satz mit den Erwartungen sage ich heute: Erwartungen sind ein Menschenrecht. Was ich mir darunter vorstelle, ist auch eindeutig mehr als ein Wunsch oder eine Sehnsucht. Aus einer Erwartung sollte aber kein Rechtsanspruch werden. Es besteht für niemanden eine Verpflichtung, eine Erwartung zu erfüllen. Und das ist auch gut so.

Ich denke heute, dass Eltern erwachsener Kinder schon eine gewisse Zuwendung und Unterstützung erwarten dürfen. (Wobei man natürlich schnell ins Streiten kommen kann, was „eine gewisse“ genau bedeutet.) Auch das nenne ich einen respektvollen Umgang miteinander. Zuwendung und Unterstützung in der Familie sollten nach dem Kindesalter keine Einbahnstraße sein. – Und wenn ich emotional sortiert auf unsere Familie schaue, dann ist das auch so. Wenn eben wie immer im Leben auch nicht alle Wünsche erfüllt werden. Damit konnte ich inzwischen meinen Frieden machen.

Schmerzlich bleibt, dass ich gefühlt mit meiner Tochter eben auch eine Freundin verloren habe. Es bleibt die Frage nach dem Warum. Nach der eigenen Schuld. Ich fühle mich als Mensch nicht mehr wirklich gesehen und nicht interessant und/oder inspirierend. Da ist viel unausgesprochen und da gibt es für mich sicher noch einiges an inner work zu tun.

Übrigens habe ich eine Vision von mir kürzlich begraben: In einer geführten Meditation sah ich vor einigen Jahren (für mich damals ziemlich überraschend) ein Gehöft, auf dem ich mit meinem Mann und den beiden Familien meiner Kinder lebte und mit Kindern und Jugendlichen arbeitete. Die Rollen waren bereits perfekt aufgeteilt. – Nun, in diesen herausfordernden Zeiten kann es tatsächlich einmal so kommen, dass die Kinder und Schwiegerkinder sich beruflich völlig neu orientieren und aufstellen müssen. Aber ich sehe mich inzwischen nicht mehr mittenmang. Das passt einfach nicht mehr.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens

Es bleibt für mich aber noch die Frage nach dem Sinn meines Lebens, nach dem, was ich der Welt noch geben will. Eine Frage, die ja viele Frauen meiner Generation bewegt. Egal, ob sie dies bisher in ihrer Berufstätigkeit voll gelebt hatten oder/und in ihrem Frau- und Muttersein.

Etliche meiner Freundinnen starten zwischen 60 und 70 noch einmal richtig mit Projekten durch. Für mich war das Schreiben und Herausgeben meines Buches vielleicht mein letztes Projekt. Jetzt gibt es einen Artikel ab und an. Vielleicht ist es aber auch die Frauengruppe, die ich inzwischen initiiert habe. Aber ebenso mein Sein, meine Freundlichkeit, mein Auftreten gegen Spaltungen und Feindbilder, mein aufgebauter Freundinnenkreis und nicht zuletzt der stärkere Fokus auf meine 43jährige Ehe, in der es uns inzwischen so gut geht wie schon lange nicht mehr. – Das Loslassen meiner Tochter hat viel Raum für Neues geschaffen, das inzwischen mein Leben bereichert.

Das ist ähnlich dem Loslassen meiner Arbeit als Kinder- und Familientherapeutin, das in meinem Leben und in meiner Selbstdefinition einen großen Raum eingenommen hatte. Dies gelang zu meinem und anderer Erstaunen völlig unkompliziert und machte Raum für Neues, beginnend mit einer Phase intensiver Selbstreflexion und Beschäftigung mit dem Thema, wie ich denn mein letztes Lebensdrittel gestalten möchte – immer mehr ich werdend, wie ich eigentlich bin und Dinge und Verhalten aufgebend, das nicht (mehr) wirklich zu mir gehört.

Loslassen ist das Gegenteil von Festhalten. Festhalten gibt Halt, kann aber auch Gefangenhalten. Loslassen gelingt leichter, wenn man in sich und anderen Dingen Halt finden kann. Wer sagt denn, dass es leicht sein muss? Manchmal haben wir einen inneren Entschluss quasi über Nacht gefasst und etwas für uns abgeschlossen. Manchmal aber ist es ein längerer, auch schmerzlicher Prozess. Mit dem Lohn von mehr Freiheit, wenn er gelingt.

Was sind deine Gedanken zum Thema Loslassen? Erzähl mal!

Ich wünsche dir einen schönen Tag

Liebe Grüße

Sybille

P. S. Einen weiteren Artikel von Sybille findest du hier.

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