Sieben Wochen lahmgelegt – Wie ich es überlebt habe. Was ich nebenbei alles gelernt habe…Ausrichtung und Neubeginn auf Sybilles Art
Kurzentschlossen fahren wir kurz vor Weihnachten nach Thüringen, ein bisschen Weihnachtsstimmung schnuppern. Bei fast 10 Grad spazieren wir durch Erfurt und sind wieder einmal begeistert von der schönen Stadt. Den Weihnachtsmarkt schenken wir uns. In der weitläufigen Innenstadt ohne Autos stehen an allen Ecken Weihnachtsbüdchen, Leute machen Musik, gefühlt sind nur gut gelaunte Touris unterwegs, alles ist wundervoll geschmückt und: nicht wie sonst zu dieser Zeit in anderen Städten hoffnungslos überfüllt. Wir genießen. (Für die nächste Weihnachtszeit vormerken!)
Am nächsten Tag geht es weiter über Lauscha (wundervolle Glasbläsereien – dringende Empfehlung!) nach Masserberg. Und da haut es mich um. Ich lande mit Schraube auf dem Knie und dann auf dem Po, der Fuß hat sich nicht mitgedreht und am Abend steht fest: Sprunggelenk gebrochen. Nächste Rettungsstelle 40 km entfernt. Wie verwöhnt sind wir Randberliner doch…
Erste Lektion: Peinlicher geht`s nimmer oder: was ich so alles aushalten kann!
Vom Krankenhaus geht es im Slip (Hose und Gips waren inkompatibel) ins Hotel. Die Herausforderung besteht darin, jetzt als Krückenanfänger in die 3. Etage zu kommen. Ohne Fahrstuhl. Also wie meine kleine Enkeltochter von Stufe zu Stufe auf dem Po hochstemmen. Treppenabsätze rollend überwinden (wegen der Knielandung funktionierte Krabbeln auf allen Vieren auch nicht). Zum Glück sind wir die einzigen Gäste. Ich lerne: Auch das geht vorbei! Und: Obwohl ich mindestens dreißigmal gesagt habe „Ich schaff das nicht!“ – ich schaffe es.
Zweite Lektion: Bei manchen Wünschen wäre es besser, sie gingen nicht in Erfüllung
Arztbesuche. Ich wünschte mir immer einen Arzt, der mich als mündigen Patienten und als Individuum behandelt und nicht meine Werte mit irgendwelchen Normwerten abgleicht und dann nach Schema F therapiert. Hatte ich bisher selten. Nun gerate ich an einen solchen. Er erklärt mir Vor- und Nachteile von OP und konservativer Behandlung nur mit Ruhigstellung und legt die Entscheidung dann in meine Hand. Da hätte ich mir schon einen guten alten Doktor gewünscht, der mir sagt, was „wir“ nun tun!
Dritte Lektion: Mein Gesundheits- und Trainingszustand reicht zwar für den Alltag völlig aus – bei Laufen an Krücken völlig ohne Belastung = Aufsetzen des Fußes bin ich raus
Nach dem Besuch beim Arzt und dann im Sanitätsladen für einen Walker (den ich liebevoll Klumpi nenne) kann ich mich kaum noch bewegen und habe heftige Schmerzen in Schultern und Rücken. Ist also keine Option für mich. Also werde ich in den kommenden sechs Wochen auf meinem Schreibtischstuhl durchs Leben rollen. Mein Mann hat zwar einen Rollstuhl besorgt (eine Herausforderung für sich), damit ich in den kommenden Wochen auch mal an die frische Luft komme, aber der ist in sich so instabil, dass ich nicht lange in ihm sitzen kann.
Vierte Lektion: Ich lerne, so manche bisherige Selbstverständlichkeit zu schätzen.
Mein neues Leben: Ich komme nicht mehr in meine geliebten Räumlichkeiten in der 1. Etage.
Ich muss das Bett mit meinem Mann tauschen.
Baden geht nicht. Duschen ist ein Kraftakt.
Täglicher Spaziergang entfällt. Ich lasse mich durchrütteln auf den bei uns teilweise unbefestigten Wegen und über Kopfsteinpflaster. Nach 30 Minuten bin ich durchgefroren. Oder ich bin/wäre patschenass, also Stubenarrest.
Da sich mein Mann wegen der Jahreszeit nicht im Garten, sondern inhäusig aufhält, halten wir uns von früh bis zum Schlafengehen in einem Raum auf. Ich, der ihre Rückzugsmöglichkeiten so wichtig waren!
Privatsphäre ade!
In die Küche komme ich nicht, da der Durchgang 3 cm zu schmal ist. Mir mal eben einen Tee kochen – unmöglich.Ich muss mir alles bringen lassen. Es mag eine Zeit lang ganz nett sein, sich so verwöhnen zu lassen, für mich ist diese erzwungene Hilflosigkeit eine Herausforderung.
Kreativsein ist ein fundamentaler Baustein meines Alltags gewesen. Alle Materialien befinden sich in der Etage. Es funktioniert nicht wie beim Kochen: Ich brauche … und dann macht man los. Irgendwas fehlt immer. Und mein Mann hat ein neues Fitnesstraining: Treppe rauf und Treppe runter.
Ab Woche drei schwächt mich zusätzlich ein langwieriger Husten. Durch das Sitzen ist die Atmung weniger tief, trotz täglicher „Hockergymnastik“. Leider ist meine Antwort auf die Frage der Onlinecoaches, ob es Spaß gemacht habe, auch nach Wochen noch „Nein. Aber was muss, das muss.“
Fünfte Lektion: Ich dehne meine Komfortzone. Alles ist anders.
Die Bewegungsabläufe müssen neu gelernt und justiert werden wie rückwärts „einparken“ in den Rollstuhl, ins Auto. Toilettenbenutzung.
Nachts tausche ich den Walker gegen die Gipsschiene. Das Festwickeln übernimmt mein Mann. Eine für uns tatsächlich inzwischen ungewohnte körperliche Nähe.
Zwangsläufig teilen wir mehr Inhalte miteinander, wenn wir Podcasts oder Vorträge im Internet hören. Die Trennung von oberer und unterer Welt ist aufgehoben. Wir kommen öfter ins Gespräch und ja, es funktioniert besser denn je.
Ich lerne Geduld. Ein anderes Tempo.
Ich staune selbst beim Beobachten meines Mannes, wie viel ich sonst so nebenbei erledige.
Sechste Lektion: Schattentheater. Neue Übungsräume.
Im letzten Jahr habe ich mich viel mit meinen Schatten beschäftigt, den unverarbeiteten Spuren meiner Vergangenheit in meinem jetzigen Wahrnehmen, Denken und Handeln. Und plötzlich beginnen Dinge zu heilen: Auch wenn ich viel weniger kontrolliere, läuft es.
Ich fühle mich viel mehr geliebt von meinem Mann, weil ich grad so viel bekomme von ihm. Tatsächlich ohne große Gegenleistung, bedingungslos. Ich habe beim Aufwachen ein ganz starkes Traumbild im Kopf, das ich dann aufmale. Thema „Mir wird gegeben.“
Da ich es nicht ändern kann, lerne ich es anzunehmen und nicht dagegen anzukämpfen. Es ist wie es ist. Und das macht es leichter. Auch eine emotionale Krise zu Beginn der 4. Woche gehört dazu. Ich will Halbzeit feiern und der Doktor sagt: Wir sehen uns in vier Wochen und dann schauen wir mal. Das Internet sagt: Laufen ohne Krücken und Walker geht dann ab Woche 15…Aber ich verbiete mir dann weitere „Erfahrungsberichte“, die mich eher zum prophylaktischen Sorgen verleiten und bleibe im Hier und Jetzt.
Siebte Lektion: Auch in einer 43jährigen Ehe, in der vieles auf der Strecke geblieben war, geht noch was.
Ich hätte es nicht gedacht: Verbundenheit und Nähe werden für mich stärker spürbar als in den letzten Jahren. Normalerweise kann ich alles alleine. Gut so. Aber das Teilen von Themen, Gedanken und Gefühlen, das Hilfe-Annehmen, sich etwas leichter etwas machen zu lassen und die gemeinsame Suche nach Lösungen von Problemen, tun so gut. Das Ergebnis ist Dankbarkeit dafür, dass der andere da ist und so ist, wie er ist.
Achte Lektion
Nach 7 Wochen darf ich beginnen, wieder den Fuß aufzusetzen und zu belasten. Ich soll langsam steigern. Ab Woche 8 soll dann die Physiotherapie das Ganze begleiten (Ich war clever und habe mir gleich am Tag nach dem Sturz Termine geholt.). Das klappt dann nicht wie geplant. Ich muss eine andere Physiotherapie suchen. Zum Glück beträgt die Verzögerung am Ende nur 3 Wochen und nicht 8, wie mir Termine in den ersten Praxen angeboten worden waren.
Sieben Wochen lahmgelegt – ich habe es überlebt und nebenbei sehr viel gelernt und auch das jetzt diese Phase vorbei ist, kann ich dankbar annehmen.
Liebe Grüße
Sybille
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Oh Mann, Wahnsinn, was so „passieren“ kann… ganz gemein fand ich die Rückkehr aus der Notaufnahme in der Unterhose… also wirklich! Weiterhin Gute Besserung und alles Liebe!
Liebe Sybille,
danke fürs Teilen. Die fehlende und auch kontrollierte Selbstständigkeit kann einen schon gedanklich bewegen. Von unausgeglichen, traurig, emotional bis hin zu Akzeptanz des Istzustandes.
Ich finde es gut, dass Ihr es zu zweit so gut hinbekommen habt. Austausch bewirkt viel.
Einander zugewandt.
Dir weiterhin alles Gute.
Lieben Gruß
Sibille
Hallo Sybille,
vielen Dank für das Teilen deiner Reflektionen!
Da hast du ja ganz schön was hinter dir. Ich finde es stark, dass du diese Wochen nicht einfach als „verschwendete Lebenszeit“ abhakst, sondern aus diesem Unglück und den ganzen Einschränkungen so viel hast lernen und für dich mitnehmen können.
Ich habe selber MS und nach der Trennung von meinem Mann sind meine beste Freundin und ihre Familie mit mir zusammen in eine WG gezogen, damit ich nicht alleine bin.
Eigentlich bin ich auch jemand, der alles immer selber machen will, und es war (und ist) für mich eine Herausforderung, wenn mein Körper streikt, dann doch mal um Hilfe zu bitten und diese auch annehmen zu können. Was ich dabei gelernt habe: ich hatte immer Angst, anderen zur Last zu fallen. Meine Freunde sagen: wir machen das gerne, weil wir dich gern haben – und wenn du immer sagst, dass du schon irgendwie alleine klarkommst, dann denken wir, dass wir in deinen Augen nicht gut genug sind und du deswegen lieber alles selber machst. – Gut, dass wir drüber gesprochen haben…
Gute Besserung weiterhin, auf dass du bald wieder auf die Beine kommst – und eure Zweisamkeit trotzdem so nah bleibt!
Liebe Grüße
Anne