Der Juni steht ganz im Zeichen von Struktur vs. Chaos, einem Thema, das uns alle auf die eine oder andere Weise beschäftigt. Manchmal fühlen wir uns im Alltag einfach überfordert, und das Chaos im Kopf scheint überhandzunehmen. Es ist, als würden ständig zu viele Tabs im Gehirn offen sein, und man findet den einen mit der Einkaufsliste einfach nicht mehr.
Genau zu diesem Gefühl teilt heute eine besondere Gastautorin ihre Gedanken mit uns, die ihr bereits aus unserer Serie „gesund gefragt – ganzheitlich geantwortet“ kennt. Dr. Susanne Eble beleuchtet das Thema ADHS im Erwachsenenalter und zeigt uns, wie dieses „Chaos im Kopf“ einen Namen bekommen kann. Sie nimmt uns mit auf eine wichtige Reise des Verstehens und der Akzeptanz, die die Betroffenen von uns neue Perspektiven eröffnen kann.
Wenn das Chaos im Kopf einen Namen bekommt
Lisa ist 30 Jahre alt, Mutter eines kleinen Sohnes, arbeitet in Teilzeit in einem kreativen Job und versucht, den Alltag zwischen Kita, Kundenterminen und Wäschebergen zu jonglieren. Seit der Geburt ihres Kindes fühlt sie sich jedoch zunehmend überfordert. Sie vergisst Termine, beginnt drei Dinge gleichzeitig und bringt keines zu Ende. In ruhigen Momenten fühlt sie sich innerlich gehetzt. Manchmal denkt sie: Warum bin ich so? Alle anderen kriegen das doch auch hin.
Was Lisa lange nicht wusste: Sie hat ADHS – das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom. Und sie ist damit nicht allein.

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ADHS bei Erwachsenen – lange verkannt
Früher galt ADHS als typisches „Jungenproblem“. Zappelige Schüler, die nicht stillsitzen konnten, standen im Fokus. Das Bild war männlich, laut und offensichtlich. Und man ging davon aus, dass sich das Ganze mit dem Erwachsenwerden „verwächst“. Noch vor wenigen Jahren war das sogar Lehrbuchmeinung.
Heute weiß man: Das stimmt nicht. ADHS bleibt – auch wenn es im Erwachsenenalter oft anders aussieht. Bei vielen verschiebt sich das äußere Verhalten, wird leiser. Was bleibt, ist die innere Unruhe, die Reizoffenheit, die chronische Überforderung. Und: Vor allem bei Frauen bleibt ADHS lange unentdeckt. Sie waren als Mädchen oft still, träumerisch, gut angepasst – und fallen deshalb durch alle Raster.
Lisa erinnert sich: „Ich war in der Schule nie besonders auffällig – aber auch nie richtig dabei. Ich war die Träumerin, die Abwesende. Filme konnte ich nie bis zum Ende schauen, und bei Fortbildungen war ich nach zehn Minuten raus.“ Bücher las sie nie zu Ende, weil sie beim Lesen ständig abschweifte. Rückblickend sagt sie: „Ich dachte immer, ich bin einfach nur undiszipliniert.“
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Wie sich ADHS bei Erwachsenen zeigt
Lisa beschreibt es so: „Es ist, als wären ständig 37 Tabs in meinem Kopf offen – und ich finde den einen mit der Einkaufsliste nicht.“
Typisch sind Konzentrationsprobleme, ständiges Abschweifen, Impulsivität, Schwierigkeiten beim Strukturieren von Aufgaben, Probleme mit dem Zeitmanagement, Überempfindlichkeit gegenüber Reizen, emotionale Achterbahnfahrten und vor allem: eine tiefsitzende innere Unruhe.
Wenn Lisa sich für etwas begeistert, kann sie stundenlang darin versinken – mit voller Konzentration. Aber wenn sie etwas nur halb interessiert, fällt es ihr unendlich schwer, sich zu motivieren. „Ich wusste immer, dass ich anders bin – aber ich konnte es nie benennen.“
Viele Erwachsene mit ADHS haben früh Strategien entwickelt, um ihre Schwierigkeiten zu kompensieren. Das gelingt eine Zeit lang – etwa in der Schule oder im Studium. Doch spätestens, wenn Beruf, Familie, Haushalt und Beziehung gleichzeitig jongliert werden müssen, reicht das oft nicht mehr. So wie bei Lisa.

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Ursachen und Risikofaktoren
ADHS hat eine starke genetische Komponente – das zeigen viele Zwillings- und Familienstudien. Die Wahrscheinlichkeit, ADHS zu entwickeln, liegt bei Kindern mit betroffenen Eltern bei bis zu 50 %.
Weitere mögliche Faktoren sind frühkindliche Einflüsse wie Sauerstoffmangel bei Geburt, chronischer Stress in der frühen Kindheit, Umweltfaktoren (z. B. Umweltgifte) und Lebensstilfaktoren wie Schlafmangel, Alkohol- oder Nikotinkonsum. Doch es gibt nicht die eine Ursache – ADHS entsteht aus einem komplexen Zusammenspiel genetischer, neurologischer und psychosozialer Faktoren.
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Lisas Weg zur Diagnose – oder: Warum viele so spät Hilfe finden
Lisa war jahrelang wegen Depressionen in Behandlung. Ihr wurde gesagt, sie müsse lernen, sich zu entspannen. Dabei war ihr größtes Problem: sie konnte nicht abschalten. Weder Yoga noch Achtsamkeit noch Antidepressiva halfen nachhaltig. Erst als sie auf einen Blogartikel über ADHS bei Erwachsenen stieß, klickte etwas. Sie erkannte sich in fast jedem Satz wieder.
Sie sprach mit ihrer Hausärztin – doch die winkte ab: „ADHS bei Erwachsenen? Das ist doch eine Modediagnose.“ Schließlich fand Lisa nach langer Recherche eine Fachärztin, die auf ADHS spezialisiert war. Der erste Termin? In neun Monaten. „Ich war frustriert, aber ich wusste: Ich muss da durch.“
In Deutschland liegt die Häufigkeit von ADHS im Erwachsenenalter laut Studien zwischen 2,5 und 4,7 %. Dennoch erhalten viele Betroffene über Jahre Behandlungen für Symptome wie Angst, Depression oder Sucht – ohne dass die eigentliche Ursache erkannt wird. Lisa sagt: „Ich habe so oft gedacht, ich bin einfach nur zu sensibel oder unfähig.“ Tatsächlich fehlt es noch immer an ausreichend geschulten Fachärzt:innen – viele kennen noch den alten Lehrbuchsatz: „Das wächst sich raus.“
Dabei kann eine späte Diagnose viel Leid verhindern – und sogar lebensverändernd sein. Viele berichten nach der Diagnose von einem tiefen Aufatmen: „Endlich hat mein Chaos einen Namen.“
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Die häufigen Begleiter: Komorbiditäten
ADHS kommt selten allein. Viele Betroffene leiden zusätzlich an Depressionen, Angststörungen, Substanzabhängigkeit (v. a. Alkohol, Nikotin, Koffein), Essstörungen oder Schlafstörungen. Gerade die Suchtproblematik ist hoch – oft wird versucht, die Symptome zu „beruhigen“ oder zu „pushen“.
Deshalb ist eine fundierte differenzialdiagnostische Abklärung so wichtig – durch Fachleute mit Erfahrung.
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Behandlung – was hilft?
ADHS ist keine „Krankheit“ im klassischen Sinn, sondern eine neurodivergente Verarbeitungsweise. Trotzdem kann es den Alltag stark beeinträchtigen – und daher behandlungsbedürftig sein.
Behandlungsmöglichkeiten:
- Medikamentös: v. a. Methylphenidat oder Atomoxetin. Wichtig: Nur über Fachärzt:innen, mit BTM-Rezept und individueller Begleitung.
- Psychotherapie: Besonders hilfreich ist Verhaltenstherapie mit Fokus auf Selbstorganisation, Emotionsregulation, Stressmanagement
- Coaching & Strategien: Apps, Reminder, Routinen, Strukturhilfen
- Psychoedukation: Verstehen, was ADHS ist – und was nicht.
- Selbsthilfe: Gruppen, Foren, Austausch mit Betroffenen
Lisa hat mittlerweile eine Diagnostik bei einer spezialisierten Praxis durchlaufen. Mit einer Kombination aus niedrig dosierter Medikation, Coaching und Austausch mit anderen Betroffenen hat sie begonnen, ihren Alltag neu zu strukturieren. „Ich bin immer noch ich – aber jetzt mit Werkzeugkasten.“
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Warum ADHS mehr ist als ein Problem
Lisa sagt: „Ich sehe jetzt auch das Gute an meinem ADHS – meine Kreativität, meine Begeisterung, meine Ideenflut.“
Tatsächlich berichten viele Betroffene von besonderen Stärken: Kreativität, Spontaneität, Humor, Einfühlungsvermögen, schneller Auffassungsgabe und großer Ausdauer bei starker intrinsischer Motivation.
ADHS ist kein Makel – sondern eine andere Art, die Welt zu erleben. Wichtig ist, diese Besonderheiten zu erkennen und den Umgang damit zu lernen.
Fazit
ADHS im Erwachsenenalter ist real – auch wenn es lange nicht so gesehen wurde.
Ein verspätetes Erkennen kann Leid ersparen, Beziehungen verbessern und die Lebensqualität deutlich steigern. Aber: Die Diagnose gehört in professionelle Hände. Und: Ein Leben mit ADHS ist möglich – lebendig, bunt und oft auch ein bisschen chaotisch. So wie Lisa.
Liebe Susanne,
ich bedanke mich ganz herzlich bei dir für diesen wertvollen und inspirierenden Gastartikel. Es ist faszinierend zu sehen, wie du die vermeintlichen Gegensätze von Struktur und Chaos beleuchtest und uns neue Perspektiven eröffnest. Dein Beitrag zum Monatsthema hat sicherlich viele von uns zum Nachdenken angeregt und vielleicht sogar dazu inspiriert, den eigenen Alltag neu zu gestalten.
Welche Erkenntnisse nimmst du aus Susannes Artikel mit. Teile deine Gedanken und Erfahrungen gern in den Kommentaren, denn der Austausch ist ein wichtiger Teil unserer Alltagsfeier-Gemeinschaft.
Hab einen schönen Donnerstag.
Liebe Grüße
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